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UND PLÖTZLICH IST ALLES GANZ ANDERS …

Armin Berger, CEO bei 3pc in Berlin, im Interview mit dem Annual Multimedia

AMM: Es sind jetzt fünf Jahre her, dass wir uns hier im Annual Multimedia über Künstliche Intelligenz (KI) unterhalten haben und wie Ihre Firma 3pc sie bei der Texterkennung einsetzt. Was ist seitdem passiert? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Was ist ganz anders gekommen als gedacht?

BERGER: In den ersten dieser fünf Jahre war die KI präsent bei der Arbeit. Aber es hat sich nicht leicht in Kundenprojekte überführen lassen. Wir hatten da eher missionarische Aufgaben. Man musste immer erst erklären, worum es geht und was es eigentlich kann. Und mal wurde zu viel von der KI erwartet, dann wieder zu wenig. Natürlich gab es auch Enttäuschungen, weil die Systeme noch nicht so gut waren, wie sie hätten sein sollen.

Wir haben mit sehr viel selbst entwickelten Systemen gearbeitet, aber auch mit anderen Systemen, weil wir im Forschungsverbund mit dem Deutschen Forschungsinstitut, dem Zentrum für künstliche Intelligenz DFKI und Fraunhofer Focus waren. Da hat man gemerkt, dass sich die verschiedenen Services natürlich in sehr unterschiedlichen Stadien befinden. Das hatte alles schon so etwas Experimentelles. In bestimmten Bereichen konnte man es auf nützliche Themen herunterbrechen, aber es hatte auch immer so ein bisschen was Putziges, etwas Sonderbares, was dabei herausgekommen ist bei Bilderkennung etc. Da gab es immer wieder auch unterhaltsame Momente. In den ersten Jahren ist auch viel Unreifes produziert worden. Wir haben für Industriekunden Themen gemacht wie Bilderkennung, an vielen Stellen waren es eher erweiterte Suchfunktionen. Das hat schon durchaus funktioniert. Aber da damals die KI quasi mit mythischen Elementen überfrachtet war, waren manche Kunden etwas enttäuscht. Gleichzeitig war es sehr praktisch, damit zu arbeiten. Und wenn es praktisch ist, merkt man gar nicht, dass es jetzt künstliche Intelligenz ist. Das war das Spannungsfeld bisher. Da hat ChatGPT für eine enorme Wahrnehmungsveränderung gesorgt.

AMM: Was hat sich denn seit ChatGPT in der Arbeit mit KI verändert? Nutzt man jetzt andere Tools oder auch dieselben wie bisher?

BERGER: Wir haben ja viel mit Open Source Tools gearbeitet, mit Services von Forschungspartnern, die die entwickelt haben, teilweise auch nicht zu Ende entwickelt. Die Geschwindigkeit der Entwicklung war okay, hätte aber schneller sein können.

Da hat ChatGPT eingeschlagen wie eine Bombe. Man wacht an einem ganz normalen Tag auf, wird auf dieses neue Tool aufmerksam gemacht, und dann ist das kein normaler Tag mehr. Plötzlich ist eigentlich alles ganz anders. Mir kam da ein TED-Vortrag von Kevin Kelly, dem Mitgründer von »Wired«, in den Sinn, den ich schätzungsweise vor fünf Jahren gehört habe: Er meinte dort, KI werde einmal so etwas sein wie Strom, der aus der Steckdose kommt. Damals klang das für mich interessant und denkbar. Jetzt mit ChatGPT habe ich begriffen, was es ist: Für uns bedeutet das, dass man nicht mehr unbedingt seinen eigenen Strom generiert, sondern dass es riesige Kraftwerke gibt, in die Unsummen investiert wurden und deren Output man jetzt nutzt. Beim Strom ist es meine Sache, ob ich ein Elektroauto oder einen Staubsauger daran hänge. Aber welcher Strom aus der Steckdose kommt, das entscheide nicht ich. Das ist aus meiner Sicht die grundlegende Veränderung der vorhandenen Situation.

AMM: Arbeitet 3pc jetzt noch weiter mit den eigenentwickelten Tools oder geht das jetzt vollständig rüber zu ChatGPT?

BERGER: Nein, nein. Wir haben eigene Services entwickelt, die sehr domainspezifisch sind. Zum Beispiel haben wir für einen großen Industriekunden die Bilderkennung so weit trainiert, dass sie ihre Produktblätter aus KI-gestützten Modulsystemen mit Bildern und Text bestücken. Das kann man über ChatGPT oder andere Tools in dieser ganz spezifischen Domäne nicht machen. Aber das wird früher oder später möglich sein. Deswegen finde ich dieses Bild mit der KI als Strom so brauchbar. Selbst für eine extrem spezifische Domäne wird man einen allgemeinen Service nutzen können, den man dann für die eigenen Bedürfnisse konfiguriert und in die vorhandene Struktur und Informationslandschaft einbindet.

AMM: Also statt des allgemeinen Contents, wie ihn ChatGPT nutzt, ganz speziellen, eigenen Content zu nutzen?

BERGER: Ja, ganz genau. Das wird jetzt passieren und dann wird es Tools für immer kleinere Services geben. Das existiert dann parallel und im Zusammenspiel. Das ist eigentlich die neue Kunst, die man entwickeln muss, im Zusammenspiel für die Kunden und für die jeweiligen Anwendungsfälle.

AMM: Danke für das Stichwort Kevin Kelly. In seinem Buch »What Technology Wants« formuliert er im letzten Kapitel, dass es in Zukunft nur noch darauf ankommt, die richtigen Fragen zu stellen. Alles andere macht dann die KI für uns. Ist das eine mögliche Perspektive?

BERGER: Absolut. Dazu kann ich eine sehr spezielle Geschichte aus unserer Firma erzählen. Wir haben einen Mitarbeiter, der für Social Media zuständig ist. Er ist wirklich ein origineller Typ, pfiffig gerade im Umgang mit Social Media. Dann kam ChatGPT und seitdem hat sich die Qualität seiner Texte sprunghaft verbessert, dank KI. Und er hat seitdem riesigen Spaß daran, sich in die verschiedenen KI-Systeme hineinzuarbeiten, sie zu testen und zu nutzen. Er hat zum Beispiel für uns mal testweise ein Video erstellt, in dem der Text, die Figur und die Stimme mit KI generiert wurden. Das Video, alles komplett KI.

Das bestätigt die erwähnte These von Kevin Kelly. Man muss Dinge in Zukunft nicht mehr praktisch selbst beherrschen, sondern man muss mit ihnen quasi auf einer Meta-Ebene umgehen können. Das konnte man an diesem Mitarbeiter ganz real nachvollziehen. Er hatte eine Schwäche, aber auf der anderen Seite eine ganz spezielle Fähigkeit, sich in so etwas wie KI reinzufummeln. Plötzlich spielt seine Schwäche gar keine Rolle mehr und stattdessen ist er unser interner KI-Papst geworden. Er probiert immer neue Tools aus, er schult intern und kennt sich wirklich aus.

AMM: Sie machen also intern Schulungen zum Thema KI?

BERGER: Ja natürlich. Wir machen das auch für den Entwicklerbereich. Da ist es mittlerweile auch sehr relevant. Wir arbeiten ja viel mit Content Management Systemen, TYPO3 etc. Mit KI kann man sich auch einen Code schreiben lassen, der als Grundlage schon mal ganz gut funktioniert. Das wird auch im Frontend-Bereich weiter gehen. Es ist schon spannend, aber übt halt Druck aus. Die gewohnten Abläufe sind in Frage gestellt.

AMM: Schlägt sich das schon heute finanziell, Thema Kostenersparnis, nieder?

BERGER: Natürlich hat es Kostenvorteile, wenn man mit KI arbeitet. Man kann Prozesse extrem abkürzen. Aber es hat auch seine Limitierung. Gerade im Entwurfs- und Gestaltungsbereich kennen wir noch kein Tool, das stilistisch nicht sehr amerikanisch ist. Da müssen noch viele Kulturräume erschlossen werden. Wenn man jetzt noch einmal diesen Stromvergleich nimmt, dann hinkt der Vergleich. Strom ist ja neutral und nicht kulturell vorgeprägt. Das sind schon Fragen, die uns beschäftigen: Was sind die Bedingungen? Was ist der Hintergrund und wieviel Wettbewerb gibt es da zum Beispiel? Wir hängen dann mehr oder weniger von drei Tech-Giganten ab. Und was bedeutet das? Welche Verantwortung haben die? Die sind super-international und natürlich nicht neutral. Das wirft schon auf vielen Ebenen sehr große Fragen auf.

AMM: Wie reagieren die Kunden auf ChatGPT etc.?

BERGER: Unsere Kunden sind alle noch sehr vorsichtig. Wir haben viele öffentliche Kunden und keinen E-Commerce. Da gibt es weniger Schmerzen. Aber bei unseren Kunden geht es auch um gesellschaftliche Verantwortung. Die haben eine grundlegende Skepsis und sie haben auch Probleme, Daten irgendwo nach Amerika in irgendwelche Systeme zu schicken. Sicherheit, Privatsphäre, das sind alles Themen, die auf uns jetzt zukommen.

Aber ich muss schon sagen, die Entwicklung ist einfach krass. Vom Erleben her beschleicht mich immer wieder das Gefühl, unsere Zeit ist einfach nicht normal. Da schreibt eine KI einen Text, der ist inhaltlich und stilistisch richtig, er ist in Deutsch — und sogar wirklich gut.

KI ist ein Assistent, mit dem wir schon seit ein paar Jahren arbeiten. Nur ist der nun auf einen Schlag sehr viel reifer und klüger geworden. Und er hat manchmal Ideen, auf die man nicht selbst kommt. Natürlich stimmt das nicht immer, man muss es prüfen und korrigieren. Aber die Texte kommen oft mit einer solchen Verve und einem solchen Selbstbewusstsein, dass man schon aufpassen muss und sich nicht einschüchtern lassen darf. Wir sind letztlich schon noch schlauer als die. KI muss man verstehen, man muss damit umgehen lernen. Die künstliche Intelligenz löst jetzt nicht alles, sondern ist ein Tool, das unglaublich mächtig ist, aber das man natürlich bedienen können muss. Nicht nur bei den Prompts, sondern auch in der Verarbeitung und der Einschätzung des Outputs. Das bleibt. Das macht uns jetzt nicht arbeitslos, ist aber an bestimmten Stellen schneller.

AMM: Die Angst des Verlustes vieler Arbeitsplätze durch die KI, teilen Sie die?

BERGER: Ich habe mittlerweile meine eigene Theorie, in welcher Zeit wir so eigentlich leben. Ich glaube, wir tragen an vielen Stellen noch sehr viel alte Bilder mit uns herum. Und ein wesentliches, veraltetes Bild, das völlig falsch und fehlleitend ist und sich aus den 90er-Jahren und den frühen 2000er-Jahren herübergerettet hat, das ist das der Massenarbeitslosigkeit.

Wir haben damals an bestimmten Stellen eine Technologiefeindlichkeit und Grundskepsis entwickelt. Es gab nun mal viele Arbeitslose. Und jeder Arbeitsplatz, der irgendwie kreiert werden konnte, war ein guter. Wir sind jetzt aber im Zeitalter des Fachkräftemangels angekommen. Massenarbeitslosigkeit ist aus meiner Sicht daher kein Motiv, das uns anleiten sollte. Wir haben viel Bürokratie aufgebaut, auch aus Angst vor Massenarbeitslosigkeit. Man könnte da sehr vieles eigentlich abschaffen, was nie wirklich wertvoll war, außer dass man eben viele Menschen beschäftigt hat. Und jetzt hat man eine Technologie, die eine Aufgabe, für die früher drei Leute ein Jahr lang gebraucht haben, mit einer Person in zehn Minuten erledigen kann. Das erfordert echt ein Umdenken und extremen Mut. Denn in dieser Gemächlichkeit, die wir in diesen komplexen Prozessen entwickelt haben, steckt ja auch so eine Beruhigung. Da guckt der eine noch mal drüber und noch ein anderer und das dauert, und dann liegt das nochmal drei Monate über den Sommer herum und irgendwas passiert dann schon.

Das alles abzukürzen, ist aus meiner Sicht eine extreme Chance für Europa und für Deutschland. In dieser völlig neuen Situation, bei der es um Effizienz und die Machbarkeit von vielen Dingen geht, liegt ein unheimliches Potenzial. Denn für manche Dinge haben wir ja gar keine Leute mehr. Thema Fachkräftemangel. Da hilft es nicht, wenn man mehr zahlt oder diesen und jenen Benefit gibt. Das funktioniert alles nicht. Auch Einwanderer, die ja erstmal Deutsch lernen müssen, sind nicht die Lösung.

Wir müssen wirklich aufhören, ständig darüber nachzudenken, dass jede Technologie Arbeitsplätze kosten könnte. Wir haben diese Leute an vielen Stellen gar nicht. Das Gute ist, wir brauchen sie jetzt nicht einmal. Zum einen, weil wir die Prozesse vom Technischen her verschlanken, zum anderen können wir durch den täglichen Fortschritt vieles viel einfacher machen. Das wäre doch echt eine Befreiung und ein toller Impuls, wenn man das als Gesamtbild einführt und erklärt. Wir leben in einer neuen Zeit. Da würde auch für die Regierung sehr viel positives Potenzial drinstecken. Ich glaube, viele wären echt froh, wenn man jetzt wieder eine positive Perspektive hätte, und die ließe sich eigentlich gut bauen.

AMM: Danke, das ist ja ein wunderschönes Schlusswort.

Das Interview führte Michael-A. Konitzer für das Annual Multimedia 2024.